Die Geschichte hinter «Tod gesagt»

Das ist die Geschichte hinter «GRABER: Tod gesagt» – der Musik und der Poesie. Wie das Projekt entstand. Wieso Jan Graber Gedichte und Stücke über den Tod schreiben wollte. Wie die erste Platte entstand, wie es weiter ging und wie der Tod des engsten Freundes zum neusten Projekt geführt hat.


Es begann mit dem Tod. Dem Selbstmord einer jungen Cousine, dem Selbstmord eines Arbeitskollegen, dem Tod eines Onkels.

Nein, es begann früher. Mitten im Leben. Mit den Gedanken, die ich mir schon als junger Mensch über die Sterblichkeit gemacht hatte. Dem ersten Toten, den ich als etwas Neunjähriger gesehen hatte, auf dem Land, wo man die Toten noch in der eigenen Wohnung aufbahrte, um sich von ihnen zu verabschieden. Mit dem Tod meines Grossvaters, zu dessen Beerdigung ich als Elfjähriger nicht mitgenommen wurde, weil ich – vielleicht noch zu jung war? Dem Tod meiner Grossmutter, der mir als Pubertierender schleierhaft und emotional entfernt schien. Dem Selbstmord eines Schulfreundes, der statt andere sich selbst erschoss. Dem Tod der anderen Grossmutter, die auf ihrem Totenbett so anders, so entrückt wirkte.

Ursprüngliche Idee

Kurz: Die Sterblichkeit, der Tod – und damit der eigentliche Antrieb des Lebens – hatte mich von früh weg fasziniert und nie losgelassen. Und weil ich als Musiker und Schreibender nach einem Thema suchte, das dem musikalischen und schreibenden Schaffen einen tieferen Sinn gab: Was lag näher, als darüber zu dichten, was immer an meiner Seite gewesen war?

Als ich etwa 2005 mit der Arbeit an «Tod gesagt» begann, interessierten mich die unterschiedlichsten Aspekte der Endlichkeit. Wie gehen wir mit unserer eigenen Sterblichkeit und derjenigen der anderen um? Wieso neigt unsere Gesellschaft immer stärker dazu, den Tod auszublenden, ja: ihn zu verneinen? Was ist Trauer? Wieso wird sie tabuisiert? (Ich denke, nicht der Tod, sondern das Leiden daran ist ein Tabu.) – Welche Aspekte des Lebens sind geprägt vom Tod? Wozu ja auch der Abschied im Allgemeinen gehört. Ist denn nicht jeder Augenblick des Lebens auch ein gleichzeitiges Sterben? Jeder Moment ist vergänglich. Und das ist gut so.

2008

Die Geschichte hinter Tod gesagt: ein altes Logo.

So begann die Geschichte von «GRABER: Tod gesagt» – der Musik und der Poesie: 16 musikalisch vertonte Gedichte über das Ende. Die Stücke sind sarkastisch, traurig, tief- und hintersinnig, lustig – und vergänglich, weil sie vor allem live immer wieder anders gespielt werden. Als die Doppel-CD 2008 als schöner, in Leinen gebundener Band mit Illustrationen des Schweizer Künstlers Peter Radelfinger erschien, war der Weg aber nicht zu Ende; ich stand erst an seinem Anfang. Mit einer sechsköpfigen Band führten wir die Stücke auf – seltener allerdings, als ich es gehofft hatte. Zwar schien das Thema viele Veranstalter zu faszinieren. Zur Aufführung bringen wollten die Stücke aber nur jene, die ihrem Publikum den Blick auf den Tod zumuteten – und so Gefahr liefen, dass ihr Haus vielleicht halb leer blieb. Dass viele Zuschauer nach den Shows positiv überrascht und nicht selten spürbar erleichtert auf mich zukamen, bestärkte mich jedoch im Ansinnen, die Sache weiterzuverfolgen.

2011

So entstanden 2011 die «Lieder zum Schluss». Dabei handelte es sich aber nicht um neue Gedichte: Zusammen mit den Mitmusikern Boris Müller und Monic Mathys gab ich den bereits geschriebenen und in Musik gesetzten Gedichten eine neue Form, in der Hoffnung, sie damit eindringlicher zu machen. Gleichzeitig verkleinerte ich die Band auf zunächst vier Musiker, später führten Martin Stricker und ich die Stücke noch zu zweit auf. Als Höhepunkt spielten wir 2015 dort, wo Gedichte über die Sterblichkeit hinpassen wie die Grabkerze aufs Grab: im alten Krematorium Sihlfeld. Veranstaltet wurde das Konzert vom Friedhof Forum Zürich. Bereits damals entstand eine Idee, die sich allerdings erst später manifestieren würde: Konzerte auf den Friedhöfen für die Toten zu geben.

2017

Martin Ain Stricker im El Lokal. Foto: Mischa Scherrer.
Martin Ain Stricker im El Lokal. Foto: Mischa Scherrer.

Zuerst aber kam das Jahr 2017 – und damit das Ende eines weiteren Lebens: dem unerwarteten Tod meines engen Freundes Martin Stricker. 50 Jahre war er auf der Erde gewandelt und hatte zahllose Menschen mit seiner unvergesslichen Art und seinem immensen Showtalent in seinen Bann gezogen; dann wurde er buchstäblich mitten aus dem Leben gerissen. Damit waren für mich auch die «Lieder zum Schluss» ausgesungen, war Martin doch zur Stimme der Stücke geworden.

2018, kein ganzes Jahr später, kam ein weiterer Freund auf mich zu. Er wollte eine Art Gedenkkonzert veranstalten, mit den «Liedern zum Schluss». Ich zögerte. Martin konnte ich nicht ersetzen. Eine Band hatte ich auch nicht. Wer würde die Stücke sprechen? Trotzdem entschloss ich mich zu einer Wiedergeburt. Ich würde als Verfasser der Gedichte den Stücken meine eigene Stimme geben, als Musiker konnte ich mit Sara Schär diejenige Person gewinnen, die mich vor fast dreissig Jahren mit Martin bekannt gemacht hatte. Mit Stefano Mauriello stiess ein Gitarrist dazu, der mit Martin in dessen letzter Band «Orphan Drug» (heute «Tar Pond») gespielt hatte.

Die Friedhofstour

GRABER live am Literaturfest Aprillen, Bern.
GRABER live am Literaturfest Aprillen 2019, zusammen mit Thomas Ott (Zeichnungen). Foto: Beatrice Leupi.

Mit der Wiederauferstehung der «Lieder zum Schluss» respektive «Tod gesagt», meldete sich auch eine andere Idee zurück: die Konzerte für die Toten, die Friedhofstour «Letzte Worte». Und wenn wir schon für die Toten spielen würden, könnte ich doch gleich neue Stücke schreiben. Die «Lieder zum Schluss» schienen mir dafür nicht mehr passend. Also machte ich mich an die Arbeit, schrieb weitere 16 Gedichte und dazu die Musik. Das Eine führte zum Anderen, wie das ist im Zyklus von Leben und Sterben, und ich ging damit ins Studio.

Schattenklang

So entstand «Schattenklang»: ein Gedichtband mit den 16 neuen Betrachtungen über die Endlichkeit, der 2020, im Jahr der grossen Pandemie, erscheinen wird. Einen passenderen Zeitpunkt hätte ich aus eigener Kraft nicht finden können, denn mehr denn je wurde in dieser verflixten Zeit klar, dass der Tod, wie Elias Canetti sagen würde, «nicht sein darf».

«Schattenklang» befasst sich vertieft mit den Themen Abschied, letzte Ruhe, Trauer und vielem, was wir in diesem Zusammenhang gerne verdrängen. Natürlich immer noch mit Augenzwinkern und ohne Mühlstein um den Hals (wie es 2008 der Autor Silvano Cerruti so schön formuliert hatte).

Jan Graber, im Mai 2020.